Jordan Peterson

 Du sollst nicht lügen

 

 

„Transphobisches Stück Scheiße“ – das klingt nicht gerade vielversprechend. Dennoch. Der Beitrag von Tamara Wernli hat mich begeistert. Ich bin ihr richtig dankbar. It made my day. Das muss ich kurz erklären: Ihr Video hat mich nicht etwa begeistert, weil ich es gut finde, was sie uns da vorführt. Sondern weil sie ein Fenster aufgemacht und Jordan Peterson vorgestellt hat.

Jordan Peterson.

Darauf habe ich gewartet.

 

Eine Art Liebeserklärung

Jordan Peterson bedeutet mir viel. Freunde von mir machen sich schon Sorgen um mich, weil sie den Eindruck haben, dass ich geradezu süchtig bin. Tatsächlich sehe ich mir jeden Morgen zum Frühsport einen Clip von ihm an. Es gibt ja auch täglich neue.

Eine Gleichgesinnte (wenn ich so sagen darf: „Ähnlichgesinnte“ wäre besser, dieses umfassende Streben nach Gleichheit in allen Bereichen wird mir immer suspekter … also, eine Freundin, die ebenfalls mit Hingabe Jordan-Peterson-Videos verfolgt) hat vorgeschlagen, dass wir beide eine „Jordan-Peterson-Anonymus“-Gruppe bilden sollten. Ein Scherz. Anonym sollte es natürlich nicht sein.

Bin ich ein Fan? Das kann man so nicht sagen. Aus dem Alter bin ich raus. Es ist mehr. Jordan Peterson ist für mich die größte Entdeckung seit … ja, seit wann eigentlich? Jedenfalls möchte ich gewisse Liebeserklärung abgeben – im weitesten Sinne natürlich, roughly speaking.

 

 

Der neue Sokrates

Wer ist denn nun dieser Jordan Peterson? Er ist der Neue Sokrates, der Held der freien Rede – „the hero of free speech“ –, er ist die Neue Vaterfigur auf youtube. Im Ernst. Das sind nicht meine Worte. Ich zitiere nur. Ich wiederum finde: Er ist eine rhetorische Sportskanone mit Wanderprediger-Qualitäten. Er hat enormen Zuspruch. Man spricht von 10 Millionen Zuhörern.

Prof. Dr. Jordan B. Peterson – Mitte fünfzig – ist klinischer Psychologe an der Universität Toronto. Schon seit Jahren stellt er seine Vorträge zum Thema Persönlichkeit ins Netz und hat damit so viele angesprochen – so viele hätte er niemals durch direkten Kontakt mit Studenten und Patienten erreicht. Er hat sich regelrecht zu einer Art Ein-Mann-Fern-Uni entwickelt. Sein Buch ‚Maps Of Meaning’ steht zum kostenlosen download bereit, ein zweites Buch ist noch nicht fertig, stürmt aber schon die Liste der Vorbestellungen bei amazon.

Doch das sind nur die Beiträge von ihm selber. Die sehen auch entsprechend aus: wie selbstgemachte Videos eben. Obendrein gibt es Blogger und Online-Publisher, anonyme und nicht anonyme Fans, die aus seinen Vorträgen, Talkshow-Auftritten und diversen Interviews Szenen ausschneiden, neu mischen, womöglich mit Musik unterlegen, kunstvoll bebildern und kommentieren. Inzwischen gibt so unübersichtlich viel von Jordan Peterson im Netz, dass ich Schwierigkeiten habe, Leuten, denen ich davon vorgeschwärmt habe, einen geeigneten Einstieg zu empfehlen. Wo soll man anfangen?

Moment. Gleich geht es los!

Es ist für alle was da. Für alle, die sich die Sinnfragen des Lebens stellen und sich für Christentum, Buddhismus, Atheismus oder Islam interessieren. Auch für ein akademisches Publikum, das an Nietzsche und Kierkegaard erinnert oder die Widersprüche im Poststrukturalismus bei Derrida erklärt haben will, ist was geboten. Jordan Peterson ist ein Experte für totalitäre Systeme, die auf Lügen gebaut sind, und kann ergreifende Geschichten aus Auschwitz oder von den Lagern in Russland erzählen. Aus der Kenntnis der Funktionsweisen solcher Systeme und der Bedeutung, die der Sprache dabei zukommt, ist sein Postulat entstanden: Speak the truth.

Es ist zugleich ein Bekenntnis zum „Logos“ als ordnendem Wort im Chaos – und weiterhin zum Dialog, worin „Logos“ enthalten ist.

Aktuell ist er damit in den Brennpunkt der Unruhen am Campus geraten. Kein Wunder: Er ist ein scharfer Kritiker der neuen Entwicklungen, insbesondere bei den Erziehungswissenschaften und den aktuellen Gesetzgebungen zur politisch korrekten Sprache, speziell zu den Sprachregelungen für den Umgang mit der Transgender-Comunity. Davon handelt der Beitrag von Tamara Wernli.

 

 

Du musst dein Leben ändern

Jordan Peterson ist zugleich eine Art Online-Therapeut mit einer erstaunlichen Anhängerschaft, die von ihm wissen will, wie man denn nun ein bedeutungsvolles Leben führen kann. Sie befolgen seine Tipps, versuchen ihr Leben auf die Reihe zu bringen und dokumentieren ihre Fortschritte in eigenen Video-Kanälen. Was tun sie?

Sie ändern ihre täglichen Gewohnheiten; sie machen Pläne, wie sie ihre großen Ziele in kleinen Schritten erreichen können; sie versuchen, nicht mehr zu lügen. Sie gehen zum Beispiel jeden Morgen eine Runde um den Häuserblock, räumen ihr Zimmer auf, lesen endlich die Bücher von Dostojewski, die Jordan Peterson ihnen empfohlen hat, und nehmen an seinem self-authorizing-Programm teil.

Was ist das nun wieder? Es ist ein Programm, das sich schon tausendfach bewährt hat und versucht, den einzelnen zum Autor seiner eigenen Lebensgeschichte zu machen auf der Grundlage der Auffassung, dass Schreiben und freies Sprechen die geeigneten Werkzeuge sind, um zu einem Selbstbewusstsein zu kommen, das nicht länger einer Täuschung unterliegt, das vielmehr den Weg zur Wahrheit ermöglicht, was wiederum das Gegenmittel gegen das unvermeidliche Leiden an der Existenz ist.

Bei Rilke heißt es: „Du musst dein Leben ändern“. Jordan Peterson versucht zu zeigen, wie es gehen könnte. Die Wahrheit zu sagen – speak the truth – ist allerdings hoch gegriffen, das ist zu anspruchsvoll für den Anfang. Wir sollten kleine Schritte tun und erst einmal aufhören zu lügen. Das heißt auch, wir sollen nicht alles mitmachen und so tun, als wären wir einverstanden.

 

Ein Geschichten-Versteher

In meinen eigenen Worten klingt das womöglich nicht so toll, es ist auch längst nicht so simpel, so handlich und gebrauchsfertig, wie es erscheinen mag. Man muss berücksichtigen, dass es mit der Wahrheit nicht so einfach ist. Es ist keineswegs so, dass wir sie schon hätten, wir suchen sie. Es geht auch bei dem Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nur darum, die Herrschenden kritisieren zu können, vielmehr geht es um einen Mechanismus, der erhalten bleiben muss, damit sich Gesellschaft entwickeln kann.

Jordan Peterson ist ein faszinierender … nein, nicht etwa Geschichten-Erzähler, sondern Geschichten-Versteher – nicht nur ein Frauen-Versteher. Ausnahmsweise möchte ich hier das ansonsten von mir nicht so geschätzte Wort „Narrativ“ verwenden. Er sieht auch unsere Leben als eine Art Erzählung und aus den überlieferten Meta-Erzählungen, aus den alten Mythen und Archetypen filtert er die Hinweise heraus, die uns zeigen können, wie wir leben sollen.

Dazu werden neue Lichter auf die Geschichten aus der Bibel geworfen, auf das Leben Buddhas und überraschenderweise auch auf Szenen aus ‚Harry Potter’, aus ‚Pinocchio’ oder aus ‚König der Löwen’. Das sind die Erzählungen, die in uns schlummern. Hier werden die großen Fragen aufgeworfen:

Was will eigentlich ein Drache mit einer Jungfrau? Wozu braucht ein Frosch Gold? Warum suchen die Ritter der Tafelrunde ausgerechnet die dunkelste Stelle des Waldes auf? Warum versteckt sich der nackte Adam vor Gott hinter einem Busch, als wüsste er nicht, dass Gott durch Büsche gucken kann? Immer wieder werden wir aufgefordert, unseren toten Vater vom Grunde des Meeres zu retten – alles klar?

 

Willkommen im Jordan Peterson Kino

Wenn Sie mal einen Blick riskieren wollen. Ich habe absichtlich kurze Videos ausgesucht. Ich weiß, wie ungeduldig die Nutzer des Netzes sind. Ich bin auch so. Zum Einstieg ein superkurzes Video von Pordan B. Jeterson – von einem Fan – über ihn als Redner der besonderen Art. Ein Scherz, allerdings einer mit Nachwirkungen. Man muss immer wieder, wenn man später andere Videos von ihm sieht, daran zurückdenken.

Ja, er spricht apodiktisch. Nicht immer. Manchmal fällt er sich auch selbst in die Worte und in die Gedanken, fängt noch mal neu an, entschuldigt sich oder denkt leise vor sich hin. Wenn man ihm beim Sprechdenken zuschaut, hat man oft das Gefühl, Uraufführungen beizuwohnen.

roughly speaking

Im folgenden 8-Minuten-Video vom Blog ‚Bite-size-philosophy’, wo seine Vorträge in Häppchen aufgeteilt werden, heißt es: Leben ist Leiden. Wie gehen wir damit um? Das muss der einzelne entscheiden. Hier kommt der Hinweis auf Kierkegaard. Es folgen Ausführungen über die Ehe als Spiel, dessen Regeln man befolgen soll. Man ist bei diesem Spiel „all in“. Wie auch im richtigen Leben. Wieder die Frage: Wie kann man bedeutungsvoll leben? Die Integrität des Einzelnen ist die Antwort. Für den Einzelnen und für die Gesellschaft.

Leben ist Leiden

Hier wiederum ist jemand am Rechner, der sich „Mouthy Buddha“ nennt und der Jordan Peterson, den er gleich zu Anfang als „most rational and critical person“ bezeichnet, zu seinem Glauben befragt. Ein Ausschnitt (7:44): Peterson spricht über die Grundlagen seines Glaubens – und, siehe da, über Musik:

Wissenschaft Glaube Musik

Das ist ganz großes Kino (8 Minuten) mit einem gewissen Kitsch-Faktor. Hier wird heftig auf die Tube gedrückt: Peterson goes to Hollywood, möchte man sagen, wenn man sich diese Aufmachung anschaut:

Peterson goes to Hollywood

Das reicht für heute. Nein. Halt. Eins noch. Was Frauen wollen. Das interessiert uns sicher. Zumindest knappe 5 Minuten lang. Zunächst geht es um „cultural appropriation“, also um die so genannte kulturelle Aneignung, die neuerdings an den Universitäten als Ausbeutung gesehen wird – wenn beispielsweise jemand bei einer Party mit großen Mexikohüten rumläuft und sich damit fremdes Kulturgut überstülpt. So sieht es heute aus, auch Yoga ist betroffen. Es geht weiterhin um Aggression und Hip Hop und über Frauen, die harmlose Männer hassen – aber was lieben Frauen? Was wollen sie? Das zeigt eine Auswertung ihres Umgangs mit dem Internet, wenn sie da ihre heimlichen Fantasien spazieren führen.

Was Frauen wollen

 

Ein Veranstaltungshinweis

‚Auf der Suche nach Wahrheit in Zeiten von fake-news’ heißt ein Vortrag, bei dem ich einen kleinen Überblick über die Gedankenwelt von Jordan Peterson geben werde. Wo? In der ‚Arche’, einem Gemeindehaus, das zu DDR-Zeiten ein von der Stasi misstrauisch beobachteter Treffpunkt der Opposition war – roughly speaking. Am Bassin 2 in14467 Potsdam.

Wann? Am Di. 18.7. um 19 Uhr 30

 

 

 

 

XY ungelöst

Auf der Suche nach dem Täter im Nebel der geschlechtergerechten Sprache

 

Elter 1 und Elter 2, Studierende, Erlebende.

 

So sieht sie aus. Die geschlechtergerechte Sprache. Es ist wie mit Pornografie. Man muss nicht lange über eine Definition streiten – man erkennt sie sofort, wenn man sie sieht.

 

Die Beispiele habe ich mir ausgesucht, damit wir uns vor Augen halten können, worüber wir eigentlich reden. Wer redet? Wann? Wo? Im Rahmen des evangelischen Kirchentages hat es eine Genderdebatte gegeben unter dem Titel „Für eine sanfte Revolution der Sprache“ (siehe unten). Da ging es um „geschlechter- und gendergerechte“ Sprache.

Okay. Wir können die „geschlechter- und gendergerechte“ Sprache leicht erkennen.

 

Wie wirkt sie sich aus? Sie hat Wirkungen und Nebenwirkungen. Eine der Wirkungen besteht darin, dass die Täter versteckt werden. Wir lesen einen Krimi, aber dürfen ihn nicht bis zum Schluss lesen. Die Frage „who did it?“ bleibt unbeantwortet. Nicht nur die Geschlechtszugehörigkeit verschwindet im Nebel, auch die Täter verstecken sich in einer neu geschaffenen Grauzone zwischen Aktiv und Passiv.

 

Schauen wir mal. Auch diesmal will ich ein Zitat voranstellen. Ich halte der geschlechtergerechten Sprache vor, dass sie, wie Paulus gesagt hat, „undeutlich“ (Korinther 14.9) ist. Sie schafft vorsätzlich Unklarheiten, als würden sie einer Anweisung folgen, die man gelegentlich in den Drehbüchern von Federico Fellini findet – da heißt es: „Nebbia qui, nebbia là” (Nebel hier, Nebel dort).

 

Elter 1 und Elter 2

 

Inzwischen sind in Formularen bei Behörden die vertrauten Begriffe „Vater“ und „Mutter“, die noch aus einer Zeit stammen, als eine gerechte Sprache unbekannt war und keiner wusste, was „gender“ ist, durch „Elter 1“ und „Elter 2“ ersetzen worden, um damit eine neue Art von Gerechtigkeit zu schaffen.

 

Nun kann man einwenden … äh, wieso? Damit ändert sich doch nichts in Sachen Aktiv und Passiv. Ein Elter ist doch genauso eine aktive Person, wie es eine Mutter oder wie es ein Vater wäre. Wir wissen nach wie vor, wer die Täter sind. Ja, ja. Schon. Aber was tut so ein Elter?

 

Mit der Umbenennung verschwindet unsere Vorstellung von der Tätigkeit, die sich derjenige oder diejenige, der oder die sich heute „Elter“ nennt, ausübt … Oh weh, das war ein komplizierter Satz. Mit Vater oder Mutter wäre das nicht passiert. Das haben wir davon. Wir wissen nicht, was für ein Geschlecht derjenige oder diejenige hat. Wir wissen auch sonst nichts.

 

Auch die Kriminalkommissarinnen sind ratlos: Sie können einen Täter nicht mehr so leicht auf die Spur kommen. Elter 1 und Elter 2 hinterlassen keine Spuren. Wir haben keine Vorstellung davon, was sie tun. Wenn wir an eine Mutter denken, haben wir sofort eine Vorstellung davon, welche Aktivität sie aufgebracht hat, ein Kind in die Welt zu setzen und was es für ein Aufwand ist, das Alltagsleben mit einem quengelndem Kind zu meistern. Bei einem Vater haben wir ebenfalls gewisse Vorstellungen. Bei Elter nicht.

 

Wir wissen nicht, ob sie etwas gemeinsam haben – abgesehen von der Bezeichnung, die man ihnen verpasst hat. Wir wissen auch nicht, was sie für eine Beziehung zueinander haben. Wir wissen auch nicht, ob sich ein Elter überhaupt um ein Kind kümmert oder sich gerade auf der Flucht befindet.

 

Früher konnten wir uns vielfältige, die Fantasie anregende Unterschiede vorstellen zwischen einem Vater und einer Mutter. Zwischen Elter und Elter sehen wir keine. Bei Vätern und Müttern waren uns auch die verschiedenen Risiken und Nebenwirkungen bekannt, die man beim Umgang mit Kindern beachten musste. Bei Elter und Elter ist nichts bekannt.

 

 

 

Studierende

 

Wir sehen keine Unterschiede mehr. Keine Täter. Auch bei Studenten nicht. Differenzieren wird vorschnell mit Diskriminieren gleichgesetzt, also sollte man damit gar nicht erst damit anfangen: Da ist jemand, der nur pro forma Student ist, sein Studentenausweis ist noch nicht abgelaufen, er lässt sich längst nicht mehr an der Uni sehen. Der ist noch jemand, der sich gerne Vorlesungen anhört, aber den Status eines Rentners hat. Sie sollen nicht unterschieden werden. Sonst könnte sich einer der beiden ausgegrenzt und diskriminiert fühlen. Beide sind Studierende.

 

Ich war auch mal Student, mir ist das klar. Dass sich die Studenten von heute so gerne „Studierende“ nennen, hat einen einfachen Grund: Es ist die Prüfungsangst, die Angst vor dem Ende des Studiums. Denn was wird sein, so lautet die bange Frage, wenn sie eines Tages keine Studenten mehr sind? Was dann? Dann sind sie ehemalige Studenten.

 

Das darf nicht sein. Zum Glück gibt es keine ehemaligen Studierenden. Ein Studierender ist man immer. Jetzt und immerdar. Deshalb wollen sie gerne Studierende sein. Dann sind sie geschützt davor, jemals Ehemalige zu werden. The show must go on. The party shall not be over.

 

Die Party geht auch bei den Alleinerziehenden immer weiter, bei den Kunstschaffenden, den Arbeitssuchenden und Auszubildenden. Und auch den Rauchenden. Sie sind immer im Dienst, sie sind allzeit bereit. Wir wissen doch, wie das ist: Eine alleinziehende Mutter wird vom Kind aus dem Schlaf gerissen, just in dem Moment, als sie so schön davon geträumt hat, dass sie an der gläsernen Decke ein neues Reinigungsmittel ausprobiert. Ein Künstler ist immer ein Künstler, auch wenn es so aussieht, als würde er gerade über ein neues Werk nachdenken und es würde ihm partout nichts einfallen. Alle sind so sehr in Beschlag gelegt, dass sie nichts anderes mehr tun können. Sie haben immer Schicht. Sie sind rund um die Uhr das, was sie tun.

 

Es sieht auf den ersten Blick so aus, als wären das keine guten Beispiele dafür, wie durch eine geschlechtergerechte Sprache Täter versteckt und aus der Verantwortung genommen werden. Schließlich sind die Studierenden und die Alleinerziehenden deutlich als Täter benannt. Sie tun etwas. Sie tun es sogar rund um die Uhr. Eben. Das ist das Problem.

 

Es kann genauso gut sein, dass sie nichts tun. Gar nichts. Gerade Alleinerziehende geben ihre Kinder besonders häufig in Fremdbetreuung. Ein Studierender hat gerade Semesterferien und arbeitet als Taxifahrer. Künstler lassen ihr Werk bewusst unvollendet; denn der Prozess des Kunstschaffens selber gilt bereits als Kunst, auf das Ergebnis kommt es nicht an. Die Mitglieder im Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller sehen sich neuerdings als „Schreibende“ und falls sie jemals etwas zu Ende gebracht und dann Urheberrechte zu verwalten haben, dann sehen sie sich als „Urhebende“.

 

Wir sind immer gerade dabei, etwas zu tun. Bei McDonald heißt es: „I’m loving it“ statt „I love it“, wir werden nie fertig, wir verbleiben in der Verlaufsform, in der Tun und Nichtstun verschwimmen und sich die Zeitenfolge (consecutio temporum) auflöst.

 

Wenn es heißt, dass die „Teilnehmenden“ anschließend eine Erklärung unterschrieben haben, müsste es eigentlich die Teilgenommen-Habenden heißen, für Teilnehmende gibt es kein „anschließend“. Egal. Die allumfassende Gegenwart – das angestrengte Nirwana auf Hochtouren – überschreitet sogar die Grenze von Leben und Tod. Denken wir an die bei einem Massaker an der Uni sterbenden Studierenden. In vorauseilendem Gehorsam passen sich die Leute an und schreiben: „… heute Vormittag ist es erneut zu einem tödlichen Unfall gekommen … eine Radfahrerin wurde direkt am Unfallort getötet. Der Volksentscheid Fahrrad wird 16 Grablichter aufstellen – für jede und jeden getöteten Radfahrenden eines.“

 

Wir sollten gleich noch eine Kerze aufstellen: für die Sprache. Die ist kaputt.

Emma Watson, die Hermine aus der Harry-Potter-Verfilmung hat vor den Vereinten Nationen die Kampagne „He for She“ vorgestellt, die eigentlich „He for Her“ heißen müsste. So viel Englisch kann ich auch. Bei der deutschen Übersetzung „Er für Sie“ fällt der Fehler nicht auf, er tut es erst, wenn wir die Formulierung in die erste Person übertragen, dann hieße es: „Ich für Du“ – nicht etwa „Ich für dich“. Das Aktiv wird hier mit dem Passiv gleichgesetzt, der Nominativ mit dem Akkusativ. Derjenige, der etwas tut – also he – ist gleichrangig mit derjenigen – also she – für die etwas getan wird.

 

Erlebende

 

 So auch bei Vergewaltigungen. Mithu Sanyal, die für diverse Rundfunkanstalten und für die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt, stellt im ‚Spiegel’ ihr neues Buch vor und erklärt, dass sie sich von Opfer-Täter-Zuschreibung verabschiedet hat und grundsätzlich in Frage stellt, dass eine vergewaltigte Frau das Opfer und der vergewaltigende Mann der Täter sei.

 

Sie meint, dass es das Wort „Opfer“ in diesem Zusammenhang gar nicht mehr geben solle. Vielmehr solle man in Zukunft bei vergewaltigten Personen, aber genauso beim Vergewaltiger von „Erlebenden“ sprechen. Das sei neutral und wertfrei und würde die klassische, genderproblematische Rollenverteilung – aktiver Mann hier, passive Frau da – aufbrechen.

 

Die anderen Diskussionsteilnehmer, die von der evangelischen Kirche eingeladen wurden, standen der geschlechter- oder gendergerechten Sprache ausnahmslos positiv gegenüber. Ich war der einzige, der die Diskussion interessant gemacht hat. Ich sage es deutlich: Ich bin gegen eine gendergerechte Sprache. Sie ist schädlich.

 

Über die drei Beispiele wurde nicht gesprochen. Gesprochen wurde nur allgemein – insbesondere über die Bibelübersetzung in gerechter Sprache, die von allen gelobt wurde. Bei den drei Beispielen ist es mir so gegangen, dass Leute, denen ich davon erzählt habe, mir nicht glauben wollten und misstrauisch nach Belegen gefragt haben. Die Belege gibt es. Die kann jeder selber googlen. Ich weiß nicht, worauf die Leute noch warten. Auf eine Schrift an der Wand? Auf einen brennenden Busch? Darauf dass ihnen jemand den Balken aus dem Auge nimmt?

 

Im Englischen spricht man vom „elefant in the room“, also vom Elefanten im Zimmer, den alle angestrengt übersehen. Wittgenstein hat einst mit Bertram Russel eine Stunde lange über die Frage diskutiert, ob es möglich ist, theoretisch zu beweisen, dass sich gerade kein Rhinozeros im Zimmer befindet.

 

Für die Genderdebatte waren zwei Stunden angesetzt. Einschließlich einer Schweigeminute für die Ertrinkenden im Mittelmeer, außerdem wurden zwei Lieder in geschlechtergerechter Sprache gesungen, für die jeweils 5 Minuten eingeplant waren. Ich hatte gefühlte 6 Minuten Zeit, kritische Anmerkungen zu machen. Ich hätte die anderen gerne zu den drei Beispielen gefragt. Dazu kam es nicht.

 

Es wirkten mit: Gesine Agena (Frauenpolitische Sprecherin Bündnis 90/Die Grünen), René_Hornstein (Vorstand Bundesverband Trans* (in dem Fall weist das Sternchen nicht auf eine Fußnote hin, sondern auf eine Besonderheit in der Frage der Geschlechtszugehörigkeit)), Prof. Dr. Martin Leutzsch (der über die Bibel in gerechter Sprache sprechen wird), Dr. Andrea Lassalle (GenderKompetenzZentrum – Netzwerker_innen).

 

Die Veranstaltung leitete Dr. Franz Ferdinand Kaern-Biederstedt. Er hat sie auch vorbereitet hatte. Sie fand am Freitag dem 26. Mai um 11.oo Uhr statt, im „Kosmos“, Saal 10, Karl-Marx-Allee 131A in Berlin Friedrichshain statt. Sie hat den Titel: „Für eine sanfte Revolution der Sprache“. Einladende Impulse für die Genderdebatte. Zentrum Regenbogen. Wer keine Dauerkarte für den Kirchentag hatte, hätte 33,– Euro Eintritt zahlen müssen. Deshalb sind einige von denen ich weiß, dass sie durchaus interessiert gewesen wären, nicht gekommen.