Paradiesische Insel – nun auch für Schwule

 

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Ich werde leicht seekrank. Dennoch hat es mich erwischt. Das Meer hat gerufen – ich habe es deutlich vernommen. Also reiste ich in die Südsee und kam nicht mehr zurück. Doch. Schon. Irgendwie. Ich lebe inzwischen in Berlin, aber ich konnte nicht so recht loslassen. Ich habe schließlich Geld in einen Umschlag gesteckt und das Mitteilungsblatt der Insel Pitcairn und der benachbarten Norfolk Inseln bestellt. Nur wegen der Briefmarken. Das Mitteilungsblatt selber habe ich – im Unterschied zu Ulli Kulke (der viel darüber geschrieben hat) – gar nicht gelesen.

 

Ich sammle nicht nur Briefmarken, sondern auch alles, was mit der ‚Schatzinsel’, mit Stevenson und mit der Meuterei auf der Bounty zusammenhängt. Um es kurz zusammenzufassen: Die Verfilmungen vermitteln einen falschen Eindruck. Kapitän Bligh war in Wirklichkeit kein Wüterich, sondern ein liberaler Reformer und erfolgreicher Politiker, der im vergleichsweise hohem Alter an Land starb.

 

Er konnte sich – so unwahrscheinlich das war – in einem spektakulären Manöver, das heute von Extremsportlern nachgespielt wird, vor den Meuterern in Sicherheit bringen, konnte sich und einige Getreue retten und sich bis nach Timor und von da aus zurück nach England durchschlagen. Und was geschah dann mit den Meuterern? Wie ging die Geschichte weiter?

 

Die Meuterer der Bounty fuhren tatsächlich zurück zu den Inseln, von denen sie eben erst aufgebrochen waren, zurück zu ihren geliebten polynesischen Frauen. Lord Byron, der die Meuterer in seiner Dichtung zu Freiheitshelden machte, glaubte, dass sie direkt ins Paradies aufbrachen. Der empfindsame Fletcher Christian wollte ursprünglich im Alleingang von Bord flüchten oder sich aus Liebeskummer umbringen, er wurde jedoch überredet, ersatzweise eine Meuterei anzuzetteln, damit sie gemeinsam zurück zu den Frauen fahren konnten. Fletscher wollte vor allem eins: zurück zu seiner Geliebten.

 

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War es Liebe? Sex? Kapitän Bligh sah darin den wahren Grund für die Meuterei. Er kannte die besonderen Verlockungen schon von vorhergehenden Expeditionen mit James Cook, an denen er teilgenommen hatte. Die Matrosen waren überwältigt gewesen, sie hatten es noch nie erlebt, dass ihnen wunderschöne Frauen dermaßen zugetan waren. Schon bei den Expeditionen unter Cook hatte es das Problem gegeben, dass große Teile der Mannschaft nicht wieder zurück an Bord und lieber in den Armen von Südsee-Schönheiten bleiben wollten. Cook musste ahnungslose Insulaner gefangen nehmen und einen regelrechten Geiselaustausch anbieten, um seine Mannschaft wieder vollzählig einzusammeln.

 

„Return to Paradise“ – das liest man heute auf den bunten Bussen, die in Samoa über die Insel tuckern. Eben das taten die Meuterer: Sie kehrten mit der Bounty zurück in ihr Paradies. Doch Fletcher Christian und seine Kameraden fühlten sich da nicht sicher. Sie mussten fürchten, dass eines Tages ein englisches Schiff käme, dass sie nach London vor das Marinegericht und dann direkt an den Galgen brächte. Deshalb blieben sie nicht lange und flohen mit dem erbeuteten Schiff ins Ungewisse.

 

Als sie zufällig die Insel Pitcairn entdeckten, die mit falscher Position verzeichnet war, glaubten sie sich gerettet. An Bord der Bounty waren neun europäische und sechs polynesische Männer sowie zwölf polynesische Frauen. Die Besiedlung der unbewohnten Insel wurde zu einem einmaligen Menschheitsexperiment. Jeder Europäer hatte eine Gefährtin. Die sechs Polynesier, die wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, mussten sich die übrigen drei Frauen teilen.

 

Es kam zum Krieg. Robert Merle, der für historische Romane und Reportagen bekannt ist, hat die unglaubliche Geschichte des großen Gemetzels auf kleinem Raum in seinem Buch mit dem unscheinbaren Titel Die Insel als Parabel erzählt. Es ist nicht nur ein toller Schmöker, der allerlei Abenteuer unter Palmen bietet, wie es die Werbung für das Buch nahelegt, es ist ein großartiger Gesellschaftsroman, den ich empfehle.

 

Was geschah? Im Jahr 1800 blieb als einziger erwachsener Mann der ehemalige Matrose John Adams übrig, zusammen mit zehn Polynesierinnen und 23 Kindern der Europäer, nachdem sich die anderen alle gegenseitig umgebracht hatten. Die polynesischen Männer hatten keine Nachkommen. Das finde ich bemerkenswert.

 

Die anderen Meuterer, die sich der Flucht ins Ungewisse nicht angeschlossen hatten und in ihrem vermeintlichen Paradies geblieben waren, wurden wie befürchtet aufgegriffen und an den Galgen geliefert. Kapitän Bligh war tatsächlich zurückgereist und hatte die Meuterer eingefangen. Als sein neues Schiff, die Pandora, im Great Barrier Reef auf Grund lief, rettete er so viele seiner Gefangenen wie möglich, um sie vor ein ordentliches Seegericht und damit an den Galgen zu bringen. Lediglich der blinde Musiker wurde begnadigt.

 

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Mit dem Bau des Panamakanals änderten sich die Seerouten. So wurde die Insel Pitcairn zufällig von einem britischen Handelsschiff entdeckt. Den überraschten Engländern bot sich das Bild einer friedvollen und gottesfürchtigen Gemeinschaft. Von dem gerade erst überstandenen Krieg ahnten die Neuankömmlinge nichts, aber die berühmte Meuterei auf der Bounty hatten sie noch gut in Erinnerung.

 

Sie hatte damals schon Legenden-Status. Adams wollte sich freiwillig dem Seegericht stellen und zurück nach England. Ihm wurde jedoch verziehen, und die gesamte Insel wurde zu einem Idyll verklärt. Dort, so dachte man, lebten Menschen, die allein mit der Bordbibel eine friedliche Zivilisation aufgebaut hatten. 1856 hatte Pitcairn schon fast 200 Einwohner. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es dank weltweiter Spenden sogar eine Zeitung, eine Schule und einen Kindergarten. Auf Pitcairn wurde 1838 auch das erste Wahlrecht für Frauen eingeführt.

 

Das 21. Jahrhundert brachte Pitcairn einen neuen Krieg. Diesmal keinen rassistischen, sondern einen sexistischen. Jetzt standen nicht Engländer gegen Polynesier, sondern Männer gegen Frauen. Nach Gerüchten über Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch von Minderjährigen wurde eine britische Polizistin nach Pitcairn entsandt, um Ermittlungen einzuleiten. Pitcairn war keine Südseeinsel mehr, Pitcairn gehörte seit 1838 zu Großbritannien – und damit gehört die Insel auch zu Europa. Auf der anderen Seite der Welt wurde nach aktuellen EU-Standards festgelegt, wer als „minderjährig“ gilt, wie schwer mögliche Vergehen sind und wann sie verjähren.

 

Die Erhebungen führten zu Strafverfahren gegen sieben von damals zwölf erwachsenen Männern. Angeklagt wurde in insgesamt 55 Fällen, die bis zu vierzig Jahre zurückreichten. Für die Verhandlungen wurden Baumaßnahmen erforderlich, und die Bevölkerung verdoppelte sich kurzfristig: Richter, Polizisten und Journalisten wurden auf die Insel verschifft. Das ganze Theater kostete rund zwanzig Millionen Dollar. In Adamstown, der kleinen Ansiedlung, die nach dem einzigen überlebenden Meuterer benannt ist, wurde eigens ein Gefängnis errichtet. Vorher gab es so etwas nicht.

 

Heute können Touristen darin übernachten. Die Männer, die da einst inhaftiert waren, hatten ohnedies Freigang gehabt, weil man auf ihre Arbeitskraft nicht verzichten konnte. Männer gelten aber weiterhin als gefährlich. Der Besuch von Kindern auf der Insel ist reglementiert. Beamte der britischen Regierung dürfen ihren Nachwuchs nicht mitnehmen. Die von freilaufenden Männern auf Minderjährige ausgehende Gefahr gilt nach wie vor als viel zu groß. Das findet auch die australische Fluggesellschaft Virgin: Männer dürfen nicht neben alleinreisenden Kindern sitzen und müssen den Platz wechseln.

 

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Neulich versuchte Pitcairn neue Bewohner anzulocken, es wurde kostenlos Land und Steuerfreiheit angeboten. Eine Trauminsel, die alles bietet: Es gibt unberührte Natur, einen imposanten Sternenhimmel unter dem Kreuz des Südens und Internet. Bisher meldete sich nur ein einziger Interessent. Obwohl es inzwischen noch eine weitere Attraktion gibt.

 

 

 

Der Rat der Insel hat einstimmig die Homo-Ehe beschlossen. Interessant ist die Begründung. Denn so recht hatte sich niemand für das Thema interessiert: „Aber es ist wie alles andere in der Welt“, erklärte eine der Ureinwohnerinnen – die überhaupt keinen Homosexuellen, der einen anderen heiraten wollte, kennt –, „wenn es überall anders geschieht, wieso nicht?“ Ja, wieso nicht?

 

Vielleicht lockt es ja jemanden an.

 

 

Bernhard Lassahn: die Geschichte der Pitcairn Insel gibt es im ersten Band von ‚Frau ohne Welt’. ‚Schatz der Bananenbieger’ ist eine Südseegeschichte mit richtigen Piraten. Dazu gibt es ein Buch und ein Lied.