Rückblick auf den Tag der unnötigen Trennung

 

 

 

Und ein Vorschlag zur zukünftigen Gestaltung des Weltfrauentages.

 

Waage

 

 

Vietnam. Hanoi. Drei Uhr in der Früh. Ich war mit dem Nachtzug gekommen, dem so genannten Wiedervereinigungs-Zug. Ich hatte Pech. Das Hotel hatte noch nicht geöffnet. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich auf den kalten Boden zu setzen, darauf zu warten, dass die Stadt langsam erwacht und mich in aller Ruhe darüber zu ärgern, dass mich der Taxifahrer um mein Bargeld erleichtert hatte.

Da kam langsam – es wirkte wie eine Erscheinung. Träumte ich etwa? ­– in der ansonsten menschenleeren Straße eine Frauengestalt auf mich zu, die wie die Verkörperung der Gerechtigkeit wirkte.

Sie balancierte eine Stange auf ihrer Schulter, die an beiden Ende mit je einem Korb beschwert war, von denen die Stange einigermaßen im Gleichgewicht gehalten wurde. Wir versuchten es redlich, wir konnten uns aber nicht verständigen. Sie schien meine Situation auch so zu verstehen, sie erbarmte sich und schenkte mir eine Banane.

Es war nicht gerade mein schönstes Ferienerlebnis, aber bemerkenswert war es schon. Mir war durchaus klar, was es für ein Tag war, an dem das passierte: Es war der internationale Weltfrauentag.

Später an diesem historischen Tag sollte ich noch zusammen mit Mingh Mingh (die eigentlich nur Mingh heißt, aber mit der Verdoppelung des Namens ihre Reize zusätzlich mit einem gewissen Südsee-Flair anreichen will) das berühmte Frauenmuseum besichtigten. Es hat mir gut gefallen. Ich kann rückblickend und zusammenfassend sagen: Es war mein schönster Weltfrauentag.

Das ist aber kein Grund, ihn beizubehalten. Es gibt Stimmen, die den internationalen Weltfrauentag abschaffen wollen. Vor allem eine Stimme. Ja, genau die. Man kann sagen, dass es die lauteste Stimme der Frauenbewegung ist und dass die Forderung nach einem baldigen Ende des Weltfrauentages damit quasi von höchster Stelle kommt. Sie kommt von Alice Schwarzer persönlich (und ist schon ein paar Jahre alt):

 

„Wie Schwarzer in der ‚Frankfurter Rundschau’ schreibt, sei der Frauentag eine „sozialistische Erfindung“, die auf einen Streik von Textilarbeiterinnen zurückgehe – die Frauenbewegung sei aber Anfang der 1970er-Jahre im Westen nicht zuletzt aus Protest gegen die machohafte Linke entstanden. Das sei eine Linke gewesen, „die zwar noch die letzten bolivianischen Bauern befreien wollte, die eigenen Frauen und Freundinnen aber weiter Kaffee kochen, Flugblätter tippen und Kinder versorgen ließ“, kritisierte Schwarzer. Auch die realsozialistischen Länder seien in den obersten Etagen bekanntermaßen frauenfrei gewesen. „Unter diesen Vorzeichen ist die Übernahme des sozialistischen Muttertags als ‚unser Frauentag‘ für Feministinnen, gelinde gesagt, der reinste Hohn.“ Darum solle der „gönnerhafte 8. März“ am besten einfach abgeschafft werden.“

 

Das finde ich auch. Es spricht einiges dafür, den „gönnerhaften 8. März“ abzuschaffen – wenn auch nicht das, was Alice Schwarzer uns auftischt. Ich möchte andere Gründe nennen. Doch sehen wir uns zunächst die Tradition dieses Gedenktages an und behalten dabei im Hinterkopf, dass Alice Schwarzer von einem „sozialistischen Muttertag“ gesprochen hat:

 

Ein Blick in den Terminkalender

Am 19. März 1911 gab es den ersten Frauentag, der insofern international war, weil er in vier Ländern, nämlich in Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz begangen wurde. Er war im Jahr zuvor auf Initiative von Clara Zetkin auf der 2. internationalen sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen beschlossen worden. Angeregt war Clara Zetkin dabei vom Kampftag für das Frauenwahlrecht, der am 28.2. 1909 in den USA stattgefunden hatte. Das Thema der ersten Aufmärsche war das Wahlrecht.

 

Der Termin änderte sich im Laufe der Jahre, einmal fiel er auf den 5. Mai, den Geburtstag von Karl Marx; im Jahre 1917 gab es gleich mehrere Tage, die Rote Woche fand vom 5. bis zum 12. Mai statt. Es gab inzwischen auch ein neues Thema. Die Proteste richteten sich nun gegen die Gewährung von Kriegskrediten. Nachdem 1918 das Wahlrecht durchgesetzt und der Krieg beendet war, wurde der Frauentag ausgesetzt.

 

In Russland ging es weiter. Auf der Internationalen Konferenz kommunistischer Frauen in Moskau wurde im Jahre 1921 der Termin für künftige Frauentage auf den 8. März festgelegt (nach dem alten russischen Kalender auf den 23. Februar), um damit an einen Textilarbeiterinnenstreik in Sankt Petersburg zu erinnern, der als einer der Auslöser der Februarrevolution von 1917 gilt.

 

In der Weimarer Republik konnte der Weltfrauentag erst im Jahre 1926 seine Wiederauferstehung feiern – etwas später also, dafür aber in doppelter Ausführung: in der kommunistischen Version mit dem 8.3. als Termin und in der sozialdemokratischen Version ohne festen Termin. Themen dieser Aktionstage waren die Forderungen nach regelmäßiger Schulspeisung und nach legaler Abtreibung.

 

Die Nazis verboten den Frauentag. Die Aktivistinnen tauchten ab, sie feierten den Tag im privaten Kreis und ließen am 8.3. demonstrativ rote Socken und andere rote Kleidungsstücke an ihrer Wäscheleine flattern. 1946 wurde der Frauentag wieder eingeführt, jedoch nur in der SBZ, in der Sowjetischen Besatzungszone. Er sollte helfen, den Zwei-Jahres-Plan zu erfüllen (später gab es Fünf-Jahres-Pläne).

 

In den fünfziger Jahren kam das Gerücht auf, dass der März-Termin nicht etwa an die Arbeiter in Russland erinnern sollte, sondern an die gewaltsame Niederschlagung eines Streiks von Textilarbeiterinnen in New York. Also: anderer Ort, dieselbe Branche. Mit dieser Umdeutung wirkte der Gedenktag nicht mehr so kommunistisch, er wurde sozusagen vom Osten in den Westen verlegt. Spätere Recherchen ergaben, dass der denkwürdige Tag des Streiks auf einen Sonntag gefallen sein muss. Nach anderen Quellen ging es nicht um einen Streik, sondern um einen Brand in einer Fabrik, der mehrere Opfer forderte.

 

Egal. Im ‚Jahr der Frau 1975’ feierten die Vereinten Nationen den Internationalen Frauentag, zwei Jahre später, also 1977, wurde der Termin 8.3. als offizieller Gedenktag eingeführt, er wird heute vorwiegend in den ehemals sozialistischen Ländern gepflegt, in etwa 200 Ländern.

 

Ein Blick in den Keller

Das heißt: In der Geschichte des Frauentages finden wir nicht nur verschiedene Termine, sondern auch verschiedene Anlässe, verschiedene Inhalte: Mal geht es um das Wahlrecht, mal um den Krieg, mal um Abtreibungen, mal um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen.

 

Keller

 

Meine Oma hatte Einmachgläser im Keller. Arno Schmidt auch. Ich weiß. Ich habe mit Ehrfurcht und Bewunderung sein Häuschen in Bargfeld besichtigt. Arno Schmidt war sehr ordentlich, das kann man nicht anders sagen. Das zeigte sich nicht nur an seinen berühmten Karteikästen, das sah man auch in seinem aufgeräumten Keller. Da hatte er die Einweckgläser sorgsam mit Etiketten versehen und korrekt beschriftet. Da stand zum Beispiel, was mir – warum auch immer – besonders im Gedächtnis geblieben ist: „Birne ’77“

 

Meine Oma machte das nicht so. Sie konnte vermutlich auch ohne Beschriftung erkennen, was in den Gläsern drin war und konnte sich noch erinnern, wie lange die da schon herumstanden.

 

Was hat das mit dem Weltfrauentag zu tun? Nun, es ist eine bildhafte Umschreibung: Der Weltfrauentag ist nur ein Termin im Kalender, noch dazu einer, der nicht feststeht. Mehr nicht. Der Weltfrauentag ist ein leeres Einweckglas ohne Beschriftung. Arno Schmidt mit seinem Ordnungsfimmel hätte vermutlich Probleme damit gehabt, er hätte die Etiketten, die ihm offenbar wichtig waren, ständig neu schreiben müssen: „Frauenwahlrecht ’12“, „Protest gegen Kriegskredite ’17“, „Schulspeisung und Abtreibung ’26“ …

 

Meine Oma hatte solche Probleme nicht. Mal waren Birnen im Glas, mal Gurken. Auf den Termin kam es nicht an. Die Inhalte der Gläser wurden sowieso nicht für die Ewigkeit konserviert. Dem Andenken war ein absehbares Ende gesetzt. Die Birnen sind gegessen. Der Erste Weltkrieg ist inzwischen auch vorbei.

 

Der Internationale Frauentag ist nicht vorbei. Feministen gehen mit dem Gedenktag um wie mit einem leeren Einmachglas, in das sie – wie sie meinen – einfüllen können, was ihnen gerade so passt. Natürlich kann man sagen, dass sich lebendige Traditionen entwickeln und im Laufe der Zeit verändern. Man kann es aber auch so sehen, dass hier eine Tradition missbraucht und für andere Zwecke vereinnahmt wird.

 

Heute soll es bei diesem Tag um die Fortschritte der Gleichstellung gehen, um den Abbau überkommener Rollenbilder, um den Schwindel namens „Gender Pay Gap“, um bessere Gagen für die Stars in Hollywood und um eine Quote für die DAX-Vorstände. Es ist obendrein eine gute Gelegenheit für Schauspieler und andere Kulturschaffende, der ersten Frau im Staate in Dankbarkeit Blumen zu überreichen.

 

Daran sieht man, dass es um nichts Bestimmtes geht und dass es keine wirkliche Tradition gibt, es gibt keine „Invariante der Richtung“, um es mit Ernst Bloch zu sagen. Wenn man die Textilarbeiterinnen exhumieren und wiederbeleben würde und sie in einer Talkshow als Vorkämpferinnen für den leeren Stuhl präsentiert, der aufgestellt werden muss, wenn ein Unternehmen die Quote nicht einhält, dann … egal. Es geht sowieso nicht. Die Heldinnen von 1917 sind tot und vermutlich inzwischen so vermodert, dass sie sich nicht mal mehr im Grab umdrehen können.

 

Es gab nicht nur verschiedene Termine und verschiedene Themen, es gab auch verschiedene Gruppen von Protagonistinnen, die sich untereinander nicht einig waren, wie man an dem Termingerangel zur Zeit der Weimarer Republik sehen kann. Es gibt keine verbindliche Gemeinsamkeit in der Welt der Frauen. Die verschiedenen Frauen, auf die man sich am Weltfrauentag beruft, würden sicherlich, wenn man sie zusammenführen könnte, auf getrennten Gläsern bestehen, womöglich auch auf getrennten Regalen.

 

Vielleicht sogar auf verschiedenen Kellern. Die einen Frauen wollen nichts mit den anderen Frauen zu tun haben. Es zeigt sich immer wieder: Es gibt sie nicht: DIE Frauen. Michel Houellebecq sagt es so: „Die Frauen bilden keinen einheitlichen Block. Sie wollen nicht alle dasselbe. Der Feminismus hat kein überzeugendes Narrativ, keinen geschlossenen Diskurs hervorgebracht.“

 

allegleich

 

Halt. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe es nicht richtig dargestellt. Es gibt doch etwas Gemeinsames beim internationalen Frauentag. Es gibt – leider, leider – doch so etwas wie eine Invariante der Richtung. Es ist aber nichts, das man pflegen und beibehalten sollte: Was es durchgängig gibt, ist ein Irrtum. Es ist der Irrtum, dass man Frauen und Männern voneinander trennen und mit der auf diese Weise künstlich herbeigeführten Trennung langfristig etwas bewirken kann. Das Gemeinsame ist die feministische Apartheidpolitik, die diesen Aktionen zugrunde liegt.

 

Die ist falsch. Die kann weg.

 

Hass oder Hegel

Der Kampf um das Wahlrecht wird gerne so dargestellt, als hätten alle Männer dieses Recht gehabt und als hätten die vernachlässigten Frauen es den störrischen Männern abtrotzen müssen. So stimmt das nicht. Vergessen wird dabei, dass es bis 1918 ein Dreiklassenwahlrecht gab, das auch die meisten Männer ausschloss. Im Jahre 1871 beispielsweise waren überhaupt nur etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt. Das lag allerdings auch daran, dass Deutschland damals – anders als heute – eine sehr junge Bevölkerung hatte und das Wahlalter bei 25 Jahren lag.

 

rotefahne

 

Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte das Wahlrecht für Frauen und für Männer. Es wurde gemeinsam erkämpft. Man kann sogar sagen, dass es vor allem von Männern erkämpft wurde – für die Frauen gleich mit. Der Beitrag der Suffragetten bestand in erster Linie aus Selbstdarstellungen und Terror – oder wie es bei Wikipedia heißt: in der Entwicklung von „neuen Formen des Protests“. Zunächst protestierten sie gegen verordnete Untersuchungen zum Gesundheitszustand von Prostituierten und machten auf sich aufmerksam, indem sie demonstrativ rauchten: Blauer Dunst und blaue Strümpfe – das waren ihre Erkennungszeichen.

 

Dann radikalisierten sie sich im Kampf um das Wahlrecht, sie verübten Brand- und Bombenanschläge, brachten die Feuerwehr durch Fehlalarm außer Gefecht und kappten Telefonverbindungen. Mary Richardson ging mit einem Schlachterbeil auf das Gemälde ‚Venus vor dem Spiegel’ von Diego Velázquez los („I didn’t like the way men visitors gaped at it all day long“). Emily Davidson warf sich in einer spektakulären Aktion vor das Pferd des Königs und starb als Märtyrerin, nachdem vorangegangene Selbstmordversuche erfolglos geblieben waren.

 

Suffragists

 

Manche Feministen glauben immer noch, dass es unbedingt so sein musste und dass es auch weiterhin so sein sollte. Beispielhaft wird das in einem Text wie „LIEBER FEMINISMUS, BITTE BLEIB LAUT UND UNBEQUEM“ (alles in Großbuchstaben) deutlich, der ein Beitrag zum Weltfrauentag 2016 aus feministischer Sicht sein will. Demnach sind verstörende und zerstörende Akte notwendig, um die Not zu wenden. Denn sonst, so meinen solche Stimmen, tue sich nichts. Sonst gehe es nicht voran. Eine radikale Aktion ist in ihren Augen ein Stürmerfoul, das nicht gepfiffen werden muss.

 

Mir ist das zu einfach. Denn damit wird jede Geschmacklosigkeit, jede Falschbeschuldigung und jede Dummheit nicht nur pauschal entschuldigt, sondern gerechtfertigt. Dahinter steht die Terroristen-Weisheit, dass der Zweck die Mittel heiligt.

 

Hegel dagegen meinte, dass die Mittel die Wahrheit über den Zweck verraten. Große gesellschaftliche Wandlungen sind immer nur mit vereinten Kräften möglich. Sie werden durch faire Zusammenarbeit von Männern und Frauen erreicht und nicht dadurch, dass ein künstliches Gegeneinander von Gruppen behauptet wird, wenn letztlich alle dieselben Interessen haben und in einer Gemeinschaft leben wollen, die sich grundsätzlich einig ist und nicht in permanenter Feindschaft lebt.

 

Ein Plakat der SPD aus dem Jahre 1919 zeigt das: Da stehen Mann und Frau nebeneinander unter einer roten Fahne. Dazu heißt es: „Gleiche Rechte – Gleiche Pflichten“. Diese „gleichen Pflichten“ waren es übrigens, die in der Schweiz dazu geführt haben, dass das Frauenwahlrecht erst in den siebziger Jahren eingeführt wurde. Nicht etwa, weil die Schweiz rückständig gewesen wäre, sondern weil das Wahlrecht an den Wehrdienst gebunden war und man erst einmal zugunsten der Frauen eine Entkoppelung von Pflichten und Rechten vornehmen musste.

 

Gleiche Rechte – Gleiche Pflichten

 

Doch gemeinsam geht’s. Come together. Warum sollten Männer ausgeschlossen werden, wenn es um eine fröhliche Sause zum Geburtstag vom ollen Karl geht? Oder gegen den Krieg? Warum sollten Frauen auf die Unterstützung von Männern verzichten, wenn sie etwas durchsetzen wollen, das allen nützen soll? Ohne Hilfe von Männern hätte es auch keine Änderungen in Sachen Abtreibung gegeben.

 

Esther Vilar findet es peinlich, wenn es eine Feministin als Erfolg reklamiert, dass sie lautstark eine offene Tür eingerannt hat und die Lorbeeren für den gesellschaftlichen Fortschritt für sich behalten will. Sie vergleicht so jemanden mit einem Jungen, der mit seiner Trillerpfeife auf dem Bahnsteig steht, kurz pustet und sich einbildet, der Zug würde seinetwegen abfahren. Ich sage es so: Der Feminismus ist der schrille Ton in einem Konzert, das sowieso auf dem Spielplan stand.

 

Also – wie ist es? Haben wir das Wahlrecht, so wie wir es heute haben, wegen der spektakulären Grenzüberschreitungen der Suffragetten oder trotz dieser Radau-Schwestern, deren Mätzchen in Wirklichkeit, wie Angela Merkel sagen würde, „nicht hilfreich“ waren? Ihr Konzept, sich gegen Männer in Stellung zu bringen, hat sich jedenfalls nicht durchgesetzt. Das ist gut so. Denn es ist schädlich, es behindert politisches Handeln und gefährdet den Zusammenhalt der Gemeinschaft.

 

Das gilt im Großen und im Kleinen. In der großen Politik – und in der kleinen Familie. Gerade da zeigen sich die Auswirkungen besonders deutlich, gerade da hat der Feminismus eine Schleimspur der Verwüstung hinterlassen. Wenn die Gemeinschaft von Mann und Frau ausbleibt, dann fehlen wenig später die Kinder. Je mehr sich der Feminismus ausbreitet, desto weniger Nachwuchs gibt es. Deshalb ist der Lapsus von Alice Schwarzer, die von einem „sozialistischen Muttertag“ sprach (ich hatte darauf hingewiesen), besonders aufschlussreich.

 

Sie sollte einen Blick in den Terminkalender werfen. Der Frauentag ist am 8. März, der Muttertag dagegen am zweiten Sonntag im Mai. Es sind nicht nur verschiedene Tage, es sind auch verschiedene Traditionen und unterschiedliche Sammelbegriffe, unter denen Frauen zusammengefasst werden – es sind, um das Bild erneut aufzugreifen, verschiedene Einmachgläser.

 

Ein „sozialistischer Muttertag“ ist Unsinn. Alice Schwarzer bringt die beiden Begriffe deshalb zusammen (und durcheinander), weil sie Aversionen gegen beides hat (gegen den Sozialismus und gegen Mütter) und weil sie in ihrer Ablehnung nicht zimperlich und in ihrer Ausdrucksweise schlampig ist. Ein befreundeter Schriftsteller, der allerdings nicht genannt sein will und allgemein als ausgewiesener Frauenversteher gilt, hat mir einmal im Vertrauen verraten: „Mütter sind keine Frauen“.

 

Aber ich weiß schon, wie er das meint. Sehen wir uns die Mütter näher an.

 

Jeder Tag ist Muttertag

Der Muttertag ist noch älter als der Frauentag, erste Ursprünge reichen bis 1865 zurück. 1914 wurde er als offizieller Feiertag in den USA begangen, ausgehend von einer Initiative von Müttern aus der methodistischen Kirche, die sich gegen den Krieg aussprachen, aber unpolitisch bleiben wollten. 1923 gab es den ersten Muttertag in Deutschland, in anderen Ländern Europas wurde er schon früher gefeiert. Der Muttertag ist also keine Erfindung der Nazis, auch wenn es gelegentlich so dargestellt wird.

 

Alles, was mit Müttern zu tun hat, wird immer noch gerne mit Nazis in Verbindung gebracht. In diesem Zusammenhang will ich auf eine besonders hässliche Polemik hinweisen – diesmal nicht von Alice Schwarzer, sondern von Thea Dorn –, auf die Gleichsetzung von Eva Hermann mit Eva Braun. Beide Frauen haben nämlich (Wenn man darauf aufmerksam gemacht wird, erkennt man es auch …) denselben Vornamen. Na dann. Das reicht als Beweis.

 

Das ist Frauenkabarett. Da kann man nicht mehr erwarten. Das Niveau lässt sich aber noch unterbieten. Wiglaf Droste hat es mit einem Anglerwitz geschafft: Es ist ein kurzer Weg, schreibt er, von „Petri Heil zu Heil Petry“.

 

Doch wie war es wirklich? Die Last-minute-Ehefrau des Führers mit dem damals häufigen Vornamen „Eva“ blieb bekanntlich kinderlos. Hitler selber wollte nach eigenem Bekunden keine Familie und auch keine Kinder. Kinder aus anderen Familien wollte er als Kanonenfutter. Sein Ideal war nicht die Familie, sondern die Volksgemeinschaft. Dennoch wird mit solchen Kabarett-Nummern so getan, als wären Mutterschaft und Kinderreichtum nicht nur erzkonservativ, sondern geradezu faschistisch. So ist es nicht. Der Muttertag ist keine Hinterlassenschaft der Nazis, aber – beispielsweise – das Jugendamt ist eine.

 

Die ewigen Hitler-Scherze sind dämliche Provinz-Nummern. Diese Kabarettisten glauben offenbar, Hitler wäre immer noch der Nabel der Welt – und wenn die Welt schon nicht am deutschen Wesen genesen soll, dann soll sie wenigstens bitterlich über das deutsche Unwesen lachen. Aber – Überraschung! – Mütter gab es auch außerhalb der Grenzen des tausendjährigen Reiches. Mütter gab es nicht nur da, wo es Nazis oder Katholiken gab. Es gab und gibt es überall auf der Welt. Seit mehr als tausend Jahren.

 

Von allen Gedenktagen, die wir uns angesehen haben, hat der Muttertag den stärksten gemeinsamen Nenner. Er ist überzeugender und besser begründet als etwa der Vatertag, der von Richard Nixon zum offiziellen Feiertag in den USA gemacht wurde, wo er als Parallele zum Muttertag entstanden war, aber schon von Anfang all das nicht hatte, was der Muttertag hat.

 

Bei uns ist der „Vatertag“ halb religiös, halb weltlich, mal wird er „Herrentag“ genannt, mal „Männertag“, mal „Christi Himmelfahrt“. Es fehlt das Verbindende, das Sinnstiftende, und aus Verzweiflung darüber stürzen sich die Männer an diesem Tag regelmäßig in den Suff. Die Erfahrung der Geburt dagegen ist etwas Starkes, das Frauen in aller Welt gemeinsam haben: Näher kommt der Mensch nicht an das Schöpfungsgeheimnis heran. Ich glaube, dass sich Frauen deshalb leichter als eine große Gemeinschaft sehen, als Männer das tun. Mutterschaft ist tatsächlich ein bedeutender gemeinsamer Nenner, den Frauen teilen ­– oder teilen könnten. Feminismus mit seinen wechselnden Modeartikeln und seinem Trennungsgebot ist es nicht.

 

Feministen mochten Mütter von Anfang an nicht. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Eine Mutter kann dem Feminismus immer nur „ein Stück weit“ folgen, wie Björn Engholm gesagt hätte. Auf Dauer können sie den tief im Feminismus eingeschriebenen Männerhass nicht teilen, spätestens dann nicht mehr, wenn sie im Kreissaal die frohe Botschaft hören: „Es ist ein Junge“. Ein Baby ist ein Mysterium, die Geburt eines „Kindes der Liebe“ ist keinesfalls ein Akt der Unterdrückung. Auch wenn sich eine Mutter zeitweilig gewissen feministischen Moden zuneigt – ihre Neigung wird immer im Spannungsverhältnis zu ihren Muttergefühlen stehen.

 

Der Muttertag gedeiht am besten in Gesellschaften, in denen sich der Staat nicht in die Familie einmischt. Länder mit sozialistischer Vergangenheit, in denen es keine klare Trennung vom Privaten und Politischen gab und die deshalb leicht eine übergriffige Staatsmacht hervorbringen konnten – wie etwa Russland –, kennen keinen Muttertag. Der Muttertag dagegen blüht besonders im Kapitalismus, als Festtag des Kitsches.

 

Er war eine erfolgreiche Geschäftsidee, in Amerika übersteigen die Umsätze zum Muttertag sogar die Umsätze zu Weihnachten. Wenn ich meine Mutter am Muttertag nicht regelmäßig angerufen habe, dann nicht etwa, weil ich etwas gegen sie gehabt hätte oder mich unbedingt vom Warmduscher-Vorwurf des Mamma-Anrufers unterscheiden wollte. Es lag einfach daran, dass mir der Muttertag irgendwie zu kitschig war. Wenn ich mit meiner Mutter telefonieren wollte, konnte ich das auch an anderen Tagen tun.

 

Noch kitschiger und noch kommerzieller ist der Valentinstag am 24.2., der als „Tag der Liebenden“ gilt. Schon wieder ein Tag, an dem Alice Schwarzer in den Terminkalender und dann in den Spiegel schaut und seufzt: „Das ist heute aber gar nicht mein Tag.“

 

Ihr würde – im Unterschied zu mir – auch das Frauenmuseum in Hanoi nicht gefallen. Überhaupt nicht. Da machen sich die Frauen für die Wärme in der Familie stark, they keep the fire burning. Da heißt es auch: „Be graceful, capable, responsible, unyielding, sentimental, tolerant, able to sacrifice“. Übersetzen muss man das nicht. Wir verstehen es auch so. Für Feministen bleibt es eine rätselhafte Fremdsprache. Ein Sprichwort habe ich mir vor Ort notiert, es besagt sinngemäß, dass man erst mit seinen eigenen Kindern das Opfer der Eltern versteht und seine Eltern neu sehen kann. Mingh Mingh wünscht sich übrigens drei Kinder.

 

Mingh

Mingh Mingh posiert im traditionellen Kostüm einer Braut im Frauenmuseum von Hanoi

 

Ich kann es wirklich empfehlen: Besuchen Sie das Frauenmuseum Hanoi! Besuchen Sie auch meine Seite Frau ohne Welt (die eine Zeit lang außer Betrieb war und nun wieder rund um die Uhr geöffnet ist).

 

 

 

POST SCRIPTUM

Ich möchte noch auf zwei aktuelle Texte zum Frauentag hinweisen, damit wir sehen, wie Feministen heute darüber denken:

 

Anne Wizorek denkt und dankt. Ihre Danksagung ‚Mein lieber Feminismus’ findet sich auf der hübsch gestalteten Seite „kleinerdrei“. Die Texte von Anne finden sich unter dem Logo „FEMINISMUSFUCKYEA“. Wie meint sie das? Darüber muss ich noch nachdenken. Sehen wir weiter:

 

Die Kolumne von Margarete Stokowski auf ‚Spiegel-Online’ unter dem Titel „Nichtig? Wichtig!“ fängt so an: „Das Geilste, was Antifeministen sich in ihren feuchtesten Träumen ausdenken können, sind Frauen, die sich gegenseitig bekämpfen und beschimpfen … Es wirkt wie der Super-GAU des Feminismus, wenn nicht mehr nur Männer ihm vorwerfen zu übertreiben, sondern auch Frauen. Am besten: zum Frauentag. Woohooo.“

 

Es soll kein Vorwurf sein, aber ich finde, es wirkt übertrieben, was sie da schreibt: „das Geilste“ und „feuchteste Träume“ – kann man noch höher pokern, noch weiter steigern, noch stärker übertreiben? Ja. Schon im nächsten Satz: „Super-GAU“ (Ein GAU ist bereits der „größte“ anzunehmende Unfall). Woohoo!

 

Dazu ein kleiner Hinweis: Frauen, die sich gegenseitig bekämpfen und beschimpfen sind überhaupt nicht geil. So richtiggehend gar nicht. Sie sind für niemanden geil. Erst recht nicht für Antifeministen. Die haben ganz andere Sehnsüchte und ganz andere Sorgen.

 

Noch etwas: Was ist ein „feuchter“ Traum? Klar: Damit ist ein mit erotischer Fantasie aufgeladener Traum gemeint. Kann man das steigern: feucht, feuchter, am feuchtesten? Ich würde es nicht tun. Ich bin aber nicht sicher. Vielleicht sagt man das bei Frauen so. Oder bei Bettnässern. Wie auch immer: Man denkt sich Träume nicht aus. Man träumt sie. Träumen ist etwas anderes als Denken. Na, ja, ‚Spiegel’-Niveau halt.

 

Oder Feministen-Niveau: Hauptsache Sex ­– und es wird auf Männern rumgehackt. Daran erkennt man Feministen. Das ist ihr Stil. Ihr Alleinstellungsmerkmal. Dazu habe ich eine bescheidene Frage: Liebe Feministen, könnt ihr das Ausleben eurer zänkischen Launen nicht auf einen Tag im Jahr beschränken? Vielleicht am 8. 3. oder am 19.3. – falls ihr euch untereinander nicht einigen könnt, dann gerne auch an beiden Tagen. Das müsste aber reichen.

 

Das wäre mein Vorschlag, mein kleiner Beitrag zu der Diskussion, die Alice Schwarzer angeregt hat. Unter diesen Vorzeichen bin ich für die Beibehaltung des Weltfrauentages. Den soll es weiterhin geben. Oder von mir aus auch zwei Weltfrauentage. Da gedenken wir dann all denen, die Männer und Frauen trennen und gegeneinander aufhetzen wollen und sich dazu immer was Neues ausdenken.

 

An all den anderen Tagen des Jahres können wir dann entspannt aufeinander zugehen und gemeinsam etwas planen.

 

 

Siehe auch:

Vietnam. Und der Traum von der Familie
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und:

Vietnam. Und der Traum vom Frieden

 

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Falsche Freunde. Falsche Feinde

 

 

Falsche Freunde und falsche Feinde.

Die halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge.

 

2fünfvor

 

 

 

 

 

Es ist immer fünf vor zwölf

 

Es geht um brutale Gewalt, um Schwule, Lesben, Transen und Feministen, sowie um Bücher und Meinungsfreiheit. Im übertragenen Sinne geht es um die Uhr des Lebens, um Lawinen sowie um Adler und andere Vögel. Außerdem geht es – ebenfalls im übertragenden Sinne – um eine brennende Hütte und um die Frage, warum Volker Beck nicht die Feuerwehr ruft.

 

Die Bundestagsfraktion der Grünen hat in Berlin ein Fachgespräch veranstaltet mit prominenter Besetzung auf dem Podium, u.a. mit Volker Beck, Kai Gehring, Prof. Sabine Hark, Ulle Schwaus, Laurel Braddock (Beratung für schwule und lesbische Heranwachsende) und Anne Wizorek.

 

Sie sind allesamt bekannt als schwule, lesbische oder feministische Aktivisten. Das passt. Es ging bei dem Fachgespräch nämlich um „Strategien gegen Anti-Feminismus und Homophobie“ – also um Strategien gegen Leute, von denen die Promis auf dem Podium annehmen durften, dass sie von denen nicht gemocht werden und dass die sich ihren aktuellen Plänen in den Weg stellen wollen.

 

Es ging nicht etwa um ein Gespräch mit diesen Leuten. Vielmehr ging es um ein Gespräch über solche Leute. Da sich alle auf dem Podium einig waren, war es langweilig. Es war eine Verkündung von oben herab zu einem gleichgesinnten Publikum. Es war keine Diskussion mit Für und Wider, Pro und Contra, wie man das vielleicht noch von früher kennt.

 

 

Die Lawine und die Adler

 

Zwei fatale Irrtümer wurden bei der Veranstaltung deutlich. Nicht etwa dem Publikum oder den Meinungsführern auf dem Podium. Im Gegenteil – die schienen sich pudelwohl zu fühlen. Den kritischen Beobachtern wurden sie indes schnell klar, zum Beispiel dem Informatiker Hadmut Danisch, der darüber einen launigen Bericht verfasst hat, der gut zu lesen, aber auch von erschreckender Deutlichkeit ist. Oder Wolle Pelz, ebenfalls Informatiker und freiwilliger Protokollführer, dem aufgefallen ist, dass stets von „Maskulinisten“ die Rede war – eine Bezeichnung, mit der eine Menschengruppe benannt werden soll, die es gar nicht gibt.

 

Der erste fatale Irrtum liegt darin, dass der richtige Gegner nicht erkannt wird. Die Experten auf dem Podium wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben. Kein Wunder also, dass niemand auf dem Podium war, der auch nur ansatzweise anderer Meinung war; die Veranstalter hätten gar nicht gewusst, wen sie hätten einladen sollten; denn sie wissen tatsächlich nicht, wer diejenigen sind, denen sie mit ihren „Strategien“ entgegentreten wollen und wer diejenigen sind, die eine wirkliche Gefahr darstellen.

 

Oder sie wissen es sehr wohl und verschweigen es bewusst. In beiden Fällen ist es fatal für die Lesben, Transen, Homos und Feministen, die damit über ihre wahren Gegner getäuscht werden. Gleichzeitig werden unnötigerweise diejenigen, die gar nicht die wirklichen Gegner sind, bestraft und geschädigt.

 

Stellen wir uns vor, da geht ein Wanderer auf einem Weg, auf dem die Gefahr besteht, dass ausgerechnet da Lawinen niedergehen. Nun kommt die Bergwacht, verschweigt dem Wanderer die Gefahr von Lawinen und redet ihm ein, dass er von Adlern bedroht sein könnte, deshalb müsse man überlegen, ob nicht zu seiner Sicherheit alle Adler und bei der Gelegenheit auch alle sonstigen Vögel abgeschossen werden müssen.

 

Der zweite Irrtum liegt darin, dass die Herrschaften auf dem Podium verkennen, was die vermeintlichen Gegner eigentlich angreifen wollen. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die berühmte Unterscheidung, die früher einmal gemacht wurde, als – zumindest nach außen hin – differenziert wurde zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen. Hier findet so eine Differenzierung nicht statt: Es werden dem empfindsamen Publikum Menschenfeinde präsentiert, die in Wirklichkeit keine Menschenfeinde sind, sondern Sachfeinde.

 

Eine sachliche Diskussion wird jedoch gemieden. Um welche Themen geht es? Anne Wizorek fasste die Kritik, die sie wahrnimmt, folgendermaßen zusammen: Sie richtet sich gegen Gender-Mainstreaming, gegen die „Wissenschaft von der Geschlechter-Forschung“, gegen geschlechtergerechte Sprache, gegen Quotenregeln.

 

Zu diesen Punkten wird jedoch grundsätzlich keine Kritik zugelassen. Ersatzweise wird jeder, der Kritik dazu äußert, als antifeministisch, rechtsradikal und homophob hingestellt und geächtet. Deshalb ging es auch, wie es der Titel der Veranstaltung sagt, um „Strategien gegen …“ – jedoch nicht um Strategien gegen Meinungen, sondern um Strategien gegen Menschen. Da keine Sachdiskussion stattfindet, werden aus Gegnern in der Sache schwuppdiwupp Gegner der Menschen.

 

Doch in Wahrheit werden die Schwulen, Lesben, Transen und Feministen nicht gehasst. Jedenfalls nicht von denen, die ihnen das Podium präsentieren will. Natürlich ist es so, dass sie nicht von allen geliebt werden. Das kann man auch nicht erwarten. Aber jemanden nicht zu lieben, bedeutet nicht, ihn zu hassen. Kritik ist ebenfalls kein Hass, sondern Kritik. Die ist nicht nur erlaubt, sie ist notwendig. Die Kritik, die es tatsächlich gibt, richtet sich nicht gegen die Menschen im Publikum, sondern gegen die Politik, die von den Aktivisten auf dem Podium vertreten wird.

 

Die anwesenden Tunten – es waren jedenfalls auffällig viele da – werden damit an einem empfindlichen Punkt berührt. Ihre Besonderheit konfrontiert sie ständig mit der Frage: Wie wirke ich? Wie reagieren andere auf mich? Auf diese „gute Frage“, wie man heute sagt, erhalten sie eine schlechte Antwort. Sie sind weder so beliebt und so wichtig, wie es ihnen die Grünen weismachen wollen, noch sind sie so verhasst. Die Grünen präsentieren sich als falsche Freunde und bieten ihnen an, sie vor falschen Feinden zu schützen.

 

 

Sind sie von allen guten Geistern verlassen? Sind Intellektuelle jetzt ihre Gegner?

 

Kai Gehring, Mitglied des Bundestages, hat diejenigen, die er als Gegner sieht, grob in drei Gruppen aufgeteilt. Wohlgemerkt: Er sieht eine Gegnerschaft in Menschen, nicht in Argumenten. Er nennt dann auch keine Argumente, sondern Menschengruppen – und zwar: die „religiös Motivierten“, die „politisch Motivierten“ und … An dieser Stelle will ich gleich einen ersten Zwischenruf anbringen: „Na und?!“

 

Das besagt gar nichts. Warum sollte man etwas gegen solche Leute haben? Wir haben Religionsfreiheit und wir wünschen uns mündige Bürger, die sich engagieren und die gut motiviert an der Gestaltung der Politik mitwirken und nicht einfach nur lustlos alle vier Jahre ein kleines Kreuzchen malen. Was ist dagegen einzuwenden? Motiviert zu sein ist noch kein Inhalt und macht noch lange keine Gegnerschaft aus.

 

Die dritte Gruppe, die Kai Gehring erwähnt – die „Intellektuellen“ – bilden überhaupt keine Gruppe. Das sind einzelne, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, die sich auf eigene Faust an Diskussionen beteiligen und so am Prozess der Meinungsbildung mitwirken. Dagegen spricht auch nichts. Die geheimnisvollen Maskulinisten gehören zu den Intellektuellen.

 

Wenn wir uns die Gruppen näher ansehen, bestätigt sich, was ich anfangs angesprochen habe – nämlich: Die angeblichen Gegner sind allesamt harmlos und stellen für Lesben, Schwule, Transen und Feministen keinerlei Gefahr dar. Die „Gruppe“ der Intellektuellen sowieso nicht. Die schreiben nur, die beißen nicht. Es sind womöglich seltsame, aber letztlich ungefährliche Vögel: Adler, Geier, Nachtigallen, Papageien … Intellektuelle hassen auch nicht – ihr Intellekt verbietet ihnen das. Sie bemühen sich vielmehr um eine wahrhaftige Sicht auf die Welt in ihrer Komplexität. Mehr oder weniger erfolgreich, versteht sich.

 

Außerdem bewegen sich die Autoren im geschützten Freiraum des Geistes. Die Meinungs- und Kunstfreiheit, die sie für sich in Anspruch nehmen, korrespondiert mit der Freiheit des Lesers, der sich nach der Lektüre seine eigene Meinung bilden kann (und das auch tun soll) und der selbstverständlich die Freiheit hat, ein Buch nach wenigen Seiten beiseitezulegen oder gar nicht erst anzufassen. Lesen färbt nicht ab. Wenn jemand ein Buch liest, bedeutet es nicht, dass er allem, was darin steht, zustimmt und eins zu eins für sich zu übernehmen muss.

 

Eine Leserschaft ist ebenfalls keine Gruppe. Sonst hätten wir es mit einer unüberschaubare Menge von Gruppen zu tun: mit Harry-Potter-Lesern, Shades-of-Grey-Lesern … Hinzu kommt, und das sollte Kai Gering berücksichtigen, dass die meisten mehr als ein Buch lesen.

 

Einfach nur ein paar Namen von Autoren in den Raum zu werfen – wie es auch Volker Beck getan hat – und dabei gänzlich auf Inhalte zu verzichten, verrät eine Haltung, die das Individuelle nicht schätzt und die Freiheit der Kunst und Meinungsäußerung missachtet. Das ist intellektuellenfeindlich, was eine Variante von Menschenfeindlichkeit ist, und wirkt so, als hätten die Politiker der Grünen Angst davor, dass jemand selbständig denkt.

 

Den Eindruck musste man tatsächlich haben. Da wurden vom Podium herab Namen präsentiert, als würden sie damit zum Abschuss freigegeben: Kelle, Kuby, Matussek, Martenstein, Pirincci. Ich bin mir sicher, dass die Herrschaften die Bücher gar nicht gelesen, sondern nur irgendetwas darüber gehört haben. Schlimmer noch: Sie sind offenbar der Ansicht, dass es auch nicht nötig ist, sich damit zu befassen. Name genügt. Angela Merkel hat Sarrazin schließlich auch nicht gelesen.

 

So werden diese Autoren, die etwas „zur Sache“ geschrieben haben, hingestellt als wären es Autoren, die etwas „gegen Menschen“ haben. Damit wird dem Publikum unnötig Angst gemacht und es werden Autoren, die mit ihrem Namen für das einstehen, was sie schreiben, persönlich angegriffen. André Heller sagte einst: „Denn merke: Wer das Denken nicht attackieren kann, attackiert den Denkenden“.

 

Die Herrschaften auf dem Podium schienen nicht viel von ihrem Publikum zu halten. Sie vermuteten – wahrscheinlich sogar zu recht –, dass es aus unkritischen Jubeltunten besteht, die schon zufrieden sind, wenn man – was unter Intellektuellen als Foulspiel, ja geradezu als Todsünde gilt – nicht etwa die Position, sondern die Person angreift und sich damit auf die ganz billige Tour eine inhaltliche Auseinandersetzung erspart.

 

 

Politiker, die Angst haben vor der Demokratie

 

Bei den „politisch Motivierten“ nannte Kai Gehring die AfD. Auch hier möchte ich ihm ein herzhaftes „Na und?!“ entgegenhalten. Die AfD ist neu im Parteienspektrum, ihr Programm unterscheidet sich von dem der Grünen und sorgt damit für eine wünschenswerte Vielfalt. Niemand muss sie wählen (es muss auch niemand ein Buch lesen). Soweit ist alles prima. Nun treten die Parteien in einen offenen Wettbewerb um Wählerstimmen. So ist Demokratie. Was ist daran falsch?

 

Von einem Mitglied des Bundestages erwartet man nicht unbedingt Leseempfehlungen (man erwartet auch nicht, dass von Büchern abgeraten wird), vielmehr wünscht man sich einen Bericht aus der Welt, in der sich ein Politiker auskennt. Wie ist es da? Wie sehen die Differenzen auf der politischen Bühne aus? Da kommt nichts. Fast nichts. Die AfD will partout nicht „gendern“ wird geklagt, die wollen stur bei diesem „AfD-Sprech“ bleiben, wie die nicht gegenderte Sprache inzwischen genannt wird. So der Vorwurf. Da wurde es endlich mal konkret. Und banal.

 

Wieder ertönt ein herzhaftes: „Na und?!“ So wird man nicht zum Gegner. Wenn jemand weiterhin so reden will, wie er es bisher getan hat, dann gehört er zu den Leuten, die bei einer Mode nicht mitmachen wollen, bei der sie auch nicht mitmachen müssen. Nicht-Mitmachen ist keine Gegnerschaft. Wenn sich jemand einer Sprachvorschrift nicht unterwerfen will, dann kann der Grund dafür auch in der Fragwürdigkeit der Sprachvorschrift liegen.

 

Es herrscht sowieso politische Windstille. Es gibt keinen scharfen politischen Gegenwind. Scharfen Gegenwind, den die Grünen fürchten müssten, gäbe es, wenn die AfD als etablierte Regierungspartei an der Macht wäre und sich aus der Position der Stärke heraus Strategien überlegte, wie sie der Gender-Sprache entgegentreten könnte und beispielsweise Strafmandate für den Gebrauch des Binnen-Is in Erwägung zöge.

 

So ist es nicht. Das war nur ein Gedankenspiel mit mehreren Konjunktiven. Selbst wenn es so wäre, dann befänden wir uns damit immer noch im grünen Bereich. Da blieben wir auch, solange die politischen Auseinandersetzungen weiterhin nach genau den Regeln ablaufen, die dafür vorgesehen sind. Selbst wenn es jemals soweit kommen sollte, müssten die Grünen damit umgehen können und müssten so eine Auseinandersetzung nicht fürchten. Es sei denn, sie fürchten die Regeln der parlamentarischen Demokratie. Tun sie das? Es sieht fast so aus.

 

Die Ja-Sager und die Nein-Sager

 

Wenn man sich ein brauchbares Bild von den Gegnern machen wollte, müsste man noch eine weitere Unterscheidung treffen, die sich anhört, als wollte man sich auf Brecht und das Stück die ‚Jasager’ beziehen („Viele werden nicht gefragt, und viele sind einverstanden mit Falschem. Darum: Wichtig zu lernen ist Einverständnis“). Wir müssen nämlich nicht nur zwischen Ja-Sagern und Nein-Sagern unterscheiden, sondern obendrein zwischen Nein-Sagern und Nichts-Sagern. Wir kennen das: Der Computer bietet uns immer wieder drei und nicht nur zwei Möglichkeiten zur Auswahl: Ja/ Nein/ Abbrechen.

 

Denn die meisten sagen nicht etwa „Nein“ zu Homos, Feministen und Transen – also zu den so genannten Buchstabenmenschen, den LGBTIlern ­– sie sagen vielmehr gar nichts dazu. Sie kennen sie nicht mal. Die meisten sagen auch nicht „Nein“ zu den Bildungsplänen (die sie auch nicht kennen). Sie sagen auch nicht „Nein“ zu einer gendergerechten Sprache, so wie es die AfD tut, sie sagen einfach nichts dazu. Ein „Nicht“ ist kein „Nein“. Im politischen Spektrum sind die Nichts-Sager inzwischen die größte Gruppe, es sind die Nicht-Wähler.

 

Auch bei denen müssen wir unterscheiden – das klingt wiederum nach Ernst Bloch – zwischen einem Noch-nicht und einem Nicht-mehr, also zwischen denen, die noch nicht so weit sind, dass sie sich zu einem „Ja“ oder „Nein“ durchringen konnten und denen, die eine klare Ja- oder Nein-Position inzwischen wieder verlassen haben.

 

 

Eine kurze Meldung zwischendurch für alle, die ungeduldig werden und sich langsam langweilen – wie es bei einem Kommentar zu einer solchen Veranstaltung auch zu befürchten ist: Die Lawine kommt noch.

 

 

Ich will nur noch schnell – was ich schon früher hätte tun sollen – auf den Titel der Veranstaltung hinweisen: ‚Wer will die Uhr zurückdrehen?’ Na, wer wohl? Keiner. Falls es doch einen geben sollte, dann wird er damit keinen Erfolg haben. Auch nicht bei dem Versuch, die Uhr anzuhalten. Beides geht nicht. Brauchen die Grünen etwa Strategien gegen Leute, die etwas versuchen wollen, das sowieso zum Scheitern verurteilt ist?

 

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Wohl kaum. Ihre Strategien richten sich gegen etwas anderes; sie richten sich, wie sie es selbst sagen, gegen Reaktionäre. An dieser Stelle soll mein letztes „Na und!?“ ertönen. Es reicht nicht, einfach nur zu sagen, dass es Reaktionäre gibt, ohne zu erklären, was an deren Haltung so schlimm sein soll. Reaktionäre gibt es. Es wird sie immer geben. Jedenfalls solange die Bevölkerung noch nicht gleichgeschaltet und über einen großen Kamm geschoren ist. Wenn es keine Reaktionäre gibt, gibt es auch keine fortschrittlichen Kräfte.

 

Erst wenn alle auf einem Entwicklungsstand sind, ist Ruhe. Friedhofsruhe allerdings. Dann gibt es keine Sitzenbleiber und keine Überflieger mehr. Dann gibt es nicht mehr das, was Ernst Bloch die Ungleichzeitigkeit genannt hat. Dann gibt es niemanden mehr, der noch nicht – oder nicht mehr – „Ja“ oder „Nein“ sagen möchte, dann sagen alle nichts, beziehungsweise alle dasselbe – was letztlich auf dasselbe hinausläuft. Dann ist eine Egalität erreicht, bei der alles egal ist. Dann kann der Nachtwächter getrost verkünden, dass die Uhr nichts geschlagen hat.

 

So langsam verdichten sich die Hinweise, dass die Grünen genau das anstreben. Ein erster Hinweis lag in dem flüchtigen Blick auf die politische Landschaft, auf die Gruppe der „politisch Motivierten“, wie Kai Gehring sie genannt hat. Da war kein wirklicher Gegner mehr erkennbar. Kein Wunder.

 

Die Parteien sind längst gleichgeschaltet. Alle sind dem Gender Mainstreaming verhaftet, alle gendern die deutsche Sprache zugrunde und haben schon längst keine Wähler mehr, sondern „Wählerinnen und Wähler“, alle beteiligen sich am Gender-Pay-Gap-Schwindel, alle sind für Quoten, alle sind für die so genannte Vielfalt, mit der die traditionelle Familie überwunden werden soll, alle sind für sexuelle Frühaufklärung (ohne darüber aufzuklären, was den Kleinen damit schon früh zugemutet wird), alle sind für mehr Toleranz, für noch mehr Toleranz und für Akzeptanz. Alles ist alternativlos.

 

So soll auch die journalistische Landschaft sein. Dass jemand wie Ronja von Rönne es tatsächlich „gewagt“ hat, einen kritischen Artikel zum Feminismus zu schreiben, fanden die Vorsitzenden auf dem Podium empörend. Also wirklich! Das geht gar nicht. Und dann ist es auch noch eine Frau, die so einen „radikalen“ Text geschrieben hat. Eine Verräterin! Inzwischen hat sie nach einem Shitstorm mit heftigen Drohungen (sie wurde als rechtsradikal gebrandmarkt, man schrieb ihr, dass sie allein wegen dem „von“ im Namen „an die Laterne“ gehört) ihren Blog wieder eingestellt. Na also. Geschafft. Wieder ein Mensch, der sich duckt und schweigt.

 

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Der Titel ‚Wer will die Uhr zurückdrehen?’ soll irgendwie poetisch sein. Klar. Das darf man nicht wörtlich nehmen. Das weiß ich auch. Doch was ist gemeint? Was sind das für Leute, um die es geht? Kann man vielleicht so sagen: Es sind Leute, die etwas erhalten wollen? Etwas bewahren?

 

Hier zeigt sich wieder, wie schwer das Versäumnis wiegt, keine Inhalte zu nennen. Denn etwas erhalten zu wollen ist genauso wenig verwerflich wie motiviert zu sein. Es kommt ganz darauf an, wozu man motiviert ist und was man erhalten will. Sind denn nicht auch die Grünen – bei anderer Gelegenheit – dafür, etwas zu erhalten? Zum Beispiel den Regenwald. Das Sozialsystem. Den Rechtsstaat. Sind sie dann nicht auch Reaktionäre? Regenwald-Reaktionäre.

 

Wie ist es mit dem Klassenerhalt? Nie wieder zweite Liga! Ich bin jedenfalls dafür, die Unschuldsvermutung und die Pressefreiheit (sofern noch vorhanden) zu erhalten und die Muttersprache als Mittel zur Verständigung. Ich bin auch dafür, die Familien zu erhalten und weiß sehr wohl, dass ich mich damit bei der Veranstaltung lächerlich gemacht hätte.

 

 

Brutale Gewalt und schleichendes Unglück

 

Da hätten sie endlich einen gehabt, auf den man mit dem Finger zeigen könnte: Seht an! Da ist so einer, der will die Uhr zurückdrehen. Das will ich nicht. Dazu habe ich weder die Kraft noch die Motivation. Auch nicht die Naivität. Ich muss jedoch sagen, dass es mich betrübt, mit anzusehen, wie die Familien scheitern. Ich beobachte den fortschreitenden Verfall der Familien – auch den meiner eigenen – mit Bedauern und Mitgefühl, ich sehe dabei in erster Linie Verluste, die – um auch mal das Modewort zu benutzen – nachhaltig sind.

 

Mein Mitleid gilt besonders den Kindern. Ihnen wünsche ich, dass sie in einer Familie aufwachsen, in der alle zusammenhalten. Erinnert sich denn niemand mehr daran, dass man uns immer wieder aufgefordert hat, Verständnis für Straftäter zu haben, die keine richtige Eltern hatten, weil das Fehlen von liebevollen Eltern für ein Kind dermaßen schlimm ist, dass man später jedwedes Fehlverhalten entschuldigen muss?

 

Richtig. Auch wenn das Argument der schweren Kindheit gelegentlich als Ausrede benutzt und oft genug überstrapaziert wurde, es stimmt: der Verlust von einem Elternteil oder gar von beiden Eltern – auch der Entzug von Nähe bei Kleinkindern – ist das größtmögliche Unglück, dass sich Kinder vorstellen können. Das sollten wir nicht zu ihrer neuen Normalität machen.

 

Ich kann die Uhr nicht zurückdrehen. Ich kann sie auch nicht vordrehen. Wenn ich es trotzdem versuche und neugierig in die Zukunft blicke – denn so ist das poetische Bild gemeint –, dann sehe ich eine Zukunft für die Familie und nicht für die LGBTILer. Natürlich können sie mit allerlei politischer Unterstützung versuchen, Familienersatz zu schaffen, Kitas auszubauen, Homopaaren die Adoption erleichtern und Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung fördern. Es wird nichts nützen. Wir sind nicht allein auf der Welt.

 

Mit dem „Wir“, das ich nicht so oft und nicht so leichtfertig verwende, wie es die SPD tut, meine ich uns Deutsche. Insgesamt. Nicht nur die Grünen. Alle. Wenn wir als Gesamtheit der Deutschen keine Kinder mehr haben und sie nicht mehr in Familien aufwachsen lassen wollen, dann werden es eben andere tun. Andere, die genau das gerne tun wollen, was wir nicht mehr tun. Die werden dann, wenn es so weitergeht, die Mehrheit bilden.

 

Dass wir nicht allein sind, wissen wir nicht erst seit in letzter Zeit immer mehr nicht-Deutsche zu uns gekommen sind. Es sind längst schon welche da. Für sie steht die Familie an erster Stelle (neben der Religion), jedenfalls haben sie ein Weltbild, in dem der Wert der Familie hochgehalten wird und in dem Lesben, Transen und Feministen nur am Rande vorkommen. Wenn überhaupt.

 

Habe ich gerade die Homos vergessen? Nein. Die spielen durchaus eine Rolle im Weltbild der Migranten, der Zuwanderer, der Flüchtlinge, der Asylanten, der neuen Mitbürger mit Migrationshintergrund. Unter ihnen finden sich viele Nein-Sager, nicht bloß Nichts-Sager. Da finden sich viele, die eine starke Abneigung haben. Da finden sich viele, die genau das ans Licht bringen, was heute eilfertig als Hass bezeichnet wird.

 

Da gibt es Männer, denen Homosexualität zuwider ist. Sie widerspricht all ihren Werten: ihren Traditionen, ihren Kulturen, ihren Träumen, ihren Religionen, ihren Vorstellungen von Familie und von Sexualität. Sie müssen gar nicht erst zu einer schwulenfeindlichen Einstellung verführt werden – womöglich durch Schriften von Intellektuellen. Ihre Abscheu ist fest verwurzelt, sie reicht viel tiefer, als es bei einem so genannten Bio-Deutschen, der sowieso keinen Wert auf seine Wurzeln legt, jemals der Fall sein kann.

 

Nein, ich habe die Homos nicht vergessen. Kai Gehring hatte die Muslime vergessen, als er die Gegner der Buchstabenmenschen in Menschengruppen aufgeteilt hat. Er hat sie unterschlagen. Ich weiß nicht warum. Mir fällt kein guter Grund ein. Einige schlechte Gründe fallen mir sofort ein. Dabei ist er schon dicht dran gewesen, als er die „religiös Motivierten“ als eine Gruppe von Gegnern erkannt hat. Wen sah er da? Evangelikale Gruppen mit einem ungeklärten Verhältnis zur evangelischen Amtskirche und Ultrakatholiken – also Minderheiten ohne Macht und Einfluss und ohne Aggressionspotential. Wen sah er nicht?

 

Der Themenabend auf ‚arte’ unter dem Titel ‚Gleiche Liebe, falsche Liebe ?!? Homophobie in Europa’ schockte schon bei der Ankündigung mit einem Drama: Olivier und Winfred gehen Hand in Hand durch Paris und werden brutal zusammengeschlagen. Von wem? Von Intellektuellen? Von Ultrakatholiken? Wo in Paris sind sie langgegangen?

 

In einem überwiegend von Muslimen bewohntem Stadtteil. Da, wo – um im Bild zu bleiben – Lawinengefahr bestand. Zusammengeschlagen wurden sie von Taieb K. und Abdelmalik M. – die Familiennamen werden vorsichtshalber weggekürzt. Ich nehme an, dass die beiden inzwischen wegen schwerer Körperverletzung bestraft wurden und dass der Fall damit zu den Akten gelegt ist. Es wird jedoch, so ist zu fürchten, weitere Fälle dieser Art geben. Wie kann man damit umgehen? Wie kann der Abgrund, der da sichtbar geworden ist, überbrückt werden?

 

 

Hört auf zu buchstabieren, fangt an zu lesen

 

 

Womöglich gar nicht. Kann man überhaupt noch miteinander reden? Oder haben die Strategien der Dialogverweigerung und die Konstruktionen von Feindbildern zu einem Punkt geführt, an dem ein Gespräch nicht mehr möglich ist?

 

Stellen wir uns folgendes vor: Auf dem Podium sitzt Volker Beck neben einem muslimischen Familienvater, der schon lange in Deutschland lebt. Nennen wir ihn Yilmaz. Dem soll Volker Beck erklären, warum er dringend das Vater-Mutter-Kind-Modell in Frage stellen soll und warum sich Schwule, Lesben und Transen von der Heteronormativität, wie er sie verkörpert, unterdrückt fühlen und dass deshalb seine Kinder (die nebenbei bemerkt vom Schwimmunterricht befreit sind) sexuelle Frühaufklärung brauchen.

 

Herr Yilmaz könnte ihn nicht verstehen. Die Formulierungen, die Volker Beck benutzen würde, klängen für ihn hohl; für ihn wären es Begriffe, die nicht in dem Wörterbuch stehen, das er benutzt. Die Sprache von Volker Beck passt nicht zu seiner Lebenswirklichkeit.

 

Umgekehrt könnte Herr Yilmaz, obwohl er sehr gut Deutsch spricht, seine Vorstellungen auch nicht mitteilen. Er lebt in einer Familientradition, die er fortsetzen und nicht etwa aufbrechen will. Dafür braucht er keine Begründung. Die ist nicht notwendig. Deshalb fehlen ihm auch die passenden Ausdrücke. Für ihn ist seine Lebensweise etwas Selbstverständliches. Das Selbstverständliche braucht keine Rechtfertigung. Wenn er sagen würde, dass er seine Mutter und seine Familie liebt oder sich ihr verpflichtet fühlt, auch wenn sie ihn manchmal nervt, wäre das unpassend und irgendwie peinlich. Vermutlich würde er nichts dazu sagen.

 

Das muss er auch nicht. Es gibt keine spezielle Sprache dafür; man brauchte bisher auch keine. Familien gab es schon, als die Menschen noch nicht einmal so schlichte Sätze sagen konnten wie: „Ich Tarzan, du Jane“. Es ging auch so. Herr Yilmaz könnte sich auch nicht in gegenderter Sprache äußern, dann wäre er nämlich angehalten, bei jeder Gelegenheit das Trennende zu betonen; er würde aber vom Gemeinsamen sprechen wollen.

 

Die beiden kämen nicht auf einen Nenner. Hier offenbart sich ein Dilemma, das man vorhersehen konnte. Die Frage, die bisher im Hintergrund stand, drängelt sich nun in den Vordergrund: Was für Wähler wollen die Grünen? Welche Gruppe ist ihnen lieber? Die Gruppe der Migranten oder die der Schwulen und der Buchstabenmenschen?

 

Beides geht schlecht. Volker Beck ist, wie wir annehmen, nicht islamophob und Herr Yilmaz ist nicht wirklich homophob, man kann ihm auch die Übergriffe der Jugendlichen aus Paris nicht vorhalten, aber die Begriffe „Islamophobie“ und „Homophobie“ und die Verallgemeinerungen, die damit einhergehen, stehen wie kugelsichere Glasscheiben im Raum und trennen die beiden.

 

Selber schuld. Warum haben sich die Grünen auf solche pauschalen Kampfparolen eingelassen – Parolen, die sie nicht mehr unter eine Mütze kriegen? Nun zeigt sich, wie sehr die Projekte Multikulti und Toleranz bisher von Feindbildern genährt wurden – von Feindbildern, die man mit lauter Stimme herbeigerufen hat und nun nicht wieder loswird. Es ist schön bunt geworden im Land, doch die Farben beißen sich. Die Grünen buhlen um Wählergruppen, die sich untereinander nicht grün sind.

 

In den Homos, Lesben, Transen und Feministen sehen die Grünen womöglich ein neues revolutionäres Subjekt, zumindest neue Wähler. Doch solche Hoffnungen könnten sich verflüchtigen, wenn sich herausstellt, dass die Buchstabenmenschen viel zu stark mit sich selbst befasst sind und letztlich doch keine wirklich starke politische Kraft darstellen. Ich vermute, dass sich die Grünen im Zweifelsfall für Herrn Yilmaz entscheiden – ihm haben sie auch die Möglichkeit geschaffen, seine Familie nachziehen zu lassen.

 

Volker Beck sieht die Veranstaltung als großen Erfolg, er kommentierte schon flott: „Wir nehmen den Kampf gegen Hassplauderer & die Gegner der Gleichberechtigung auf. Den ‚Angry White Men’ brennt die Hütte”. Wen meint er damit? Warum freut er sich so über das Feuer? Was sind das für Töne –Hurra-Hurra-die-Hütte-brennt!? Warum ruft er nicht die Feuerwehr? Wessen Hütte brennt denn? Die von Herrn Yilmaz? Und wer sind die Hassplauderer? Diejenigen, die Ronja von Rölle zum Schweigen gebracht haben – oder wer?

 

Die Grünen sollten aufhören zu buchstabieren und anfangen zu lesen. Wenn die Herrschaften auf dem Podium die Bücher, die sie verteufeln, gelesen hätten, wären sie klüger. Hat denn ein Mitglied des Bundestages nicht die Möglichkeit, einen Mitarbeiter oder einen Praktikanten zu beauftragen, Texte durchzuarbeiten, Argumente herauszudestillieren und so übersichtlich aufzubereiten, dass ein Sprecher auf dem Podium in der Lage ist, wenigstens so zu tun, als wüsste er, wovon er redet?

 

Es ist alles da. Wenn ihnen etwa das neue Buch von Michel Houellebecq zu umfangreich sein sollte, dann genügt es, die Besprechung von Michael Klonovsky lesen. Die Probleme sind längst erkannt und beschrieben. Die Grünen müssten nur zugreifen. Sie müssten dazu allerdings ihre bockige Verweigerungshaltung aufgeben und sich der „Gruppe“ der Intellektuellen nicht länger verschließen.

 

Ich finde es armselig, von Büchern, die niemand lesen muss, die aber jeder lesen kann, der will, abzuraten und immer nur „Bäh!“ und „Igitt!“ zu schreien wie Kinder in der Trotzphase. Haben die Grünen außer Verbotsschildern und „Strategien gegen …“ nichts anzubieten? Dann will ich wenigstens eine Leseempfehlung geben – darf es etwas Erzählerisches sein? – und zwar: Harold Nebenzal: ‚Café Berlin’.

 

Das Buch führt uns in das Nachtleben der dreißiger Jahre unter den Bedingungen einer immer strenger werdenden Diktatur. Dabei geht es um die, wie man heute sagen würde, verschiedenen sexuellen Orientierungen unter besonderer Berücksichtigung der Transsexuellen.

 

Interessiert?